„Das vergessene Mitglied“ – Teil I

Das vergessene Mitglied

„Das Erste was ich spüre ist der Widerstand der Lederrüstung. Ich fühle den deutlichen Ruck, welcher bis in den Ellenbogen hoch geht. Ich lege mehr Kraft hinter den Stich und die Spitze des Schwertes sucht sich seinen Weg zwischen die gehärteten Plättchen. Wie durch Butter dringt die scharf geschliffene Spitze durch den wattierten Wams und die Kleidung.

Dann trifft sie auf Haut. Sobald die Spitze diese berührt und nur leicht darauf einwirkt ist sie auch schon hindurch. An der Einstichstelle ist die Wunde noch glatt, doch als sich der breitere Teil der Klinge seinen Weg einfordert, reißt die Haut in zackigen Bahnen auf. Das Fettgewebe am Bauch ist schnell durchdrungen, bis ich auf die Därme treffe. Diese liegen weich und ungeschützt der Klinge im Weg. Sie haben dem Stück Stahl nichts entgegenzusetzen und werden durchbohrt, aufgeschlitzt und zerrissen. Der Inhalt der Därme fließt in die Bauchhöhle. Wenn ihn der Stich alleine nicht tötet, die Entzündung welche darauf folgt wird ihre Arbeit erledigen. Durch die eingesetzte Kraft treibt es das Schwert aber immer weiter durch den Körper. Es trifft auf die Leber und die Galle, reißt sie fast entzwei. Der Blutverlust dadurch ist so groß, dass die Möglichkeit einer Infektion des Bauches sehr unwahrscheinlich wird. Das Aufritzen der Galle, welche jetzt ihren Saft in das Gemisch aus Blut und Fäkalien fließen lässt, trägt ihren Teil zu dem unausweichlichen Schicksal bei.

Ein Ablenken der Klinge nach links signalisiert mir, dass ich die Wirbelsäule gestreift habe. Vielleicht hat sich die Schneide auch ein wenig zwischen die Wirbel geschoben und Nerven verletzt. Das werde ich wohl nie erfahren. Ich habe aber auch keine Zeit darüber nachzudenken, denn nun, da der Körper vollkommen durchbohrt ist, muss ich den Schaden noch vergrößern. Ich drehe den Heft des Schwertes mit beiden Händen soweit ich kann nach rechts, dann wieder nach links und noch einmal zurück. Dadurch vergrößere ich den Schaden, welchen das Schwert im Körper angerichtet hat, aber schaffe auch der Klinge mehr Platz zum Zurückziehen. Und das ist nötig, denn meist wartet schon der nächste Gegner. Das geht dann so lange weiter, bis wir siegreich sind oder unsere Witwen uns beweinen.

Aber nach dem Kampf kommt das Beste!“

Ein Lächeln ist auf Viertel vor Zehns Gesicht zu sehen.

„Dann können wir unsere Beute einsammeln! Die Geldbörsen werden von den Gürteln geschnitten, Gold und Geschmeide von Hälsen und Fingern genommen, die noch warmen Körper nach verstecktem Gold und Edelsteinen durchsucht, und ihr habt keine Ahnung, wo die alle solchen Sachen verstecken.
Und zum Schluss schaut man noch nach, ob nicht die einen oder anderen Kleidungsstücke passen. Die Stiefel hier zum Beispiel, die habe ich von einem venezianischen Edelmann der mich unbedingt zum Duell herausfordern musste. Und das nur, weil ich aus Versehen seinen Gaul verkauft hatte. Das macht man also, wenn man sich das Söldnertum zum Beruf gewählt hat! Noch irgendwelche Fragen?“

Der Söldner schaut in zwei Dutzend kleine, bleiche Gesichter. Ein paar von ihnen halten sich die Hand vor den Mund und bemühen sich ihren Magen nicht im Klassenzimmer zu entleeren. Die Lehrerin hat sich an ihrem Schreibtisch in den letzten Winkel zurück gezogen, viel zu verängstigt von diesem großen, schwer bewaffneten Mann.
In der letzten Reihe steht ein kleines Mädchen auf, geht nach vorne, nimmt den Söldner am Ärmel seines Kettenhemdes und führt ihn energisch aus dem Klassenzimmer. Sie bringt ihn schweigend und mit vorwurfsvollem Blick zum Eingang der kleinen Schule und stupst ihn einfach hinaus.

„Das war echt peinlich Onkel Viertel!“
„Äh, warum denn? Sollte ich nicht genau das machen?“
„Du solltest kurz beschreiben, um was es in deinem Beruf geht! Und nicht alle in Angst und Schrecken versetzen!“
„Aber um das zu erklären, muss ich doch…“
„Das nächste Mal bringe ich lieber Onkel Don Christo mit! Der kann eh viel besser erzählen als du!“
„Aber Sophia! Ich habe doch nur…“

Das Mädchen dreht sich um und wirft die Tür hinter sich zu.

„Na toll. Wie erkläre ich das ihrer Mutter. Ich brauche erst mal was zu trinken. Hoffentlich haben
Hombre und Metfried was übrig gelassen.“

Etwas geknickt trottet Viertel vor Zehn durch die schmutzigen Gassen von Würzburg bis zum Marktplatz.
Dort wollten sich die Frankonier treffen, um zu beratschlagen wohin sie als nächstes ziehen wollen.
Er ist so in Gedanken über seine Nichte versunken, dass er gar nicht merkt, dass ihm ein sehr junger Mann folgt und ihn auch mehrfach anspricht.

„Entschuldigung? … Frankonier? … Viertel? … Dazu? … mit kann?“

In seinem Trott und seinen düsteren Gedanken kommt ihm nur ein „Hmmm.“ über die Lippen. Ein Wort, das den jungen Burschen sehr zu freuen scheint. Als der Krieger am Marktplatz ankommt folgt der Bursche immer drei Schritte hinter ihm. Ob sich dieser stattliche Krieger wirklich für ihn einsetzen will? Es würde damit ein Wunschtraum von ihm in Erfüllung gehen! Jetzt kann er auch die anderen Frankonier sehen! Sie stehen um einen Marktstand, der heißen Gewürzwein ausschenkt.

Alle sind sie da! Die großen und stark gerüsteten Krieger Don Christo, Bernulf und Metfried. Der zwar ältere, aber sehr flinke Spanier Hombre. Der gelehrte Krack mit dem Schwarm aller Frauen Nicodemus. Und die lieblichen, aber trotzdem sehr gefährlichen und kampferprobten Ladys Greta, Alwilda und Lanzenbrecher. Der Junge hält sich
jetzt etwas weiter zurück, immerhin will er die Gruppe nicht stören während sie über seinen Vorschlag beraten. Er beobachtet wie ein hitziges Gespräch zwischen Viertel vor Zehn und Don Christo ausbricht. Ab und zu hört er auch den Namen Sophia, den Namen seiner Mutter. Dabei hatte sie doch versprochen sich bei der ganzen Sache heraus zu halten! Aber sie scheint mit den Söldnern geredet zu haben! Hoffentlich hat sie nicht versucht die Gruppe zu überzeugen und ihn abzulehnen.

Jetzt dreht sich Metfried kurz zu ihm um, deutet auf ihn und scheint Viertel vor eine Frage zu stellen. Kurz danach dreht sich die liebliche Alwilda zu ihm um, schenkt ihm ein Lächeln und winkt ihm kurz zu. Knapp eine Minute später haut Don Christo auf den Tisch und seine laute Stimme ist rund um den Wirtsstand deutlich zu hören.

„Wer ist dafür?!“

Alle Hände gehen in die Höhe und dem Jungen hüpft vor Freude das Herz in der Brust! Er ruft ihnen
ein „Ich bin gleich wieder da!“ zu und rennt nach Hause, um seine Sachen zu holen.

Am Stehtisch der Söldner machen sich Nicodemus, Krack und Bernulf auf, um die soeben beschlossene, nächste Runde Gewürzwein zu holen. Danach soll es gleich den Main hinab weiter gehen.

Im Haus der Familie angekommen stürmt der Junge an seiner Mutter vorbei in sein Zimmer. Dort hat er vorsichtshalber schon einmal alles zusammen gelegt, was er braucht. Das Schwert von Opa, seit Jahren geschliffen, bis es jedes feine Blatt Papier schneiden kann. Es war einmal ein Zweihänder, kann jetzt aber auch als Langschwert bestimmt gute Dienste leisten. Der Griff ist zwar etwas lang, aber vielleicht wird das ja sein Markenzeichen.
Die Lederrüstung seines Onkels! Seine Mutter hatte ihm geholfen sie wieder zu flicken. Zugegeben, die kleinen, aufgestickten Vögelchen hätten nicht sein müssen, aber die Rüstung wird hoffentlich schnell genug dreckig werden, damit man die nicht mehr erkennt. Und wenn er auf seinen Reisen noch 20 Kilo zulegt, dann passt die sogar.
Das Schild seiner Mutter! Kein richtiger Schild; das war einmal der Deckel eines Waschkessels. Aber es ist rund, aus Metall und wird bestimmt seine Dienste tun.
Und natürlich seinen handgenähten Wappenrock! Stolz prangt auf der Brust der fränkische Rechen! Darauf ist er besonders stolz! Es hat ihn nur 3 Monate gekostet bis er ihn fertig hatte!
Schnell packt er noch eine Decke mit ein, aus der Küche einen kleinen Laib Brot und ein Glas seiner
Lieblingsmarmelade.

„Mama? Mama! Ich bin ein Söldner! Sie haben mich aufgenommen! Ich liebe dich! Bis irgendwann!“
Er drückt seiner Mutter noch einen Kuss auf die Wange und rennt aus seinem Elternhaus in die weite, gefährliche, aufregende Welt hinaus. Das „Komm nicht zu spät zum Essen!“ hört er schon nicht mehr.

Als er am Markt ganz außer Atem ankommt sieht er sich allerdings vergeblich um. Von den Söldnern ist nichts mehr zu finden.
„Ha! Sie wollen, dass ich mich beweise, indem ich ihre Fährte aufnehme und ihnen folge! Nun gut! Als echter Frankonier ist das eine meiner leichtesten Übungen! Habt ihr das gehört Wirt? Ich bin ein
Frankonier! Und ich folge jetzt Hombre und den anderen! Lebt wohl!“

Eine Stunde später kommt ein Gardist zum Stand des Wirtes.
„Entschuldigt guter Mann. Ich suche ein junges Bürschchen. Ungefähr sooo groß, noch feucht hinter den Ohren, trägt einen alten Lederwams und ein Schwert mit komischem Griff an der Seite. Habt ihr ihn zufällig gesehen?“
„Hm, da war vorhin so jemand da. Hat hier ziemlich herumgeplärrt. Irgendwas Frankonier, und Hombre glaube ich.“
„Hombre? Der Name ist der Wache allerdings nicht unbekannt.“
„Darf ich fragen, was der ausgefressen hat?“
„Ach, der hat aus dem Wagen des Grafen von Gerbrunn einen Beutel Silberstücke geklaut. Und dann auch ein Pferd von ihm genommen. Das wollten wir eigentlich zum Würzburger Medicus bringen. Die Stute ist nämlich trächtig, und er wollte nachschauen lassen, ob alles in Ordnung mit ihr ist.“
„Wer klaut denn ein trächtiges Pferd? Hombre nennt sich der Typ? Na, da werden meine Gäste aber lachen, wenn ich ihnen diese Geschichte erzähle!“
„Wisst ihr denn, wo er hin wollte?“
Es mischt sich jetzt ein neuer Gast in das Gespräch ein.
„Entschuldigt? Ein junges Bürschchen, gerüstet, auf einem trächtigen Pferd? Den hab ich gesehen! Der ist den Main hoch geritten, Richtung Ochsenfurt.“
„Nun denn, habt Dank für eure Zeit und eure Informationen. Wir werden diesen Hombre und seine
Spießgesellen schon schnappen!“

Leave a reply

You may use these HTML tags and attributes: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.